Kann §218 nicht einfach bleiben?

Kurz nachdem die Evangelische Kirche in Deutschland (EKD) am 11. Oktober 2023 verkündet hatte, dem Bundestag die Abschaffung von §218 zu empfehlen, gab es scharfe Kritik aus der konservativen Presse. In einem Kommentar in der WELT befand die Journalistin Hannah Bethke, die EKD sei wohl, was Schwangerschaftsabbrüche beträfe, „vom Glauben abgefallen“. Im ethischen und religiösen Sinne gehöre das „ungeborene Leben“ geschützt. Der §218 stelle eine kluge Regelung dar, einerseits für diesen Schutz zu sorgen und Frauenrechte andererseits zu stärken. Warum sollte man daran rütteln?

Ist §218 ethisch zu rechtfertigen?

Manche Theologinnen sehen das anders. Zum Beispiel Dr. Lea Chilian. Sie ist Theologin, Ethikerin und Oberassistentin am sozialethischen Institut der theologischen Fakultät der Universität Zürich. In einem vielbesprochenen Vortrag erklärte sie 2022, warum §218 der christlichen Menschenwürde widerspricht und nur Schwangere selbst ethisch in der Lage seien zu entscheiden, ob sie eine Schwangerschaft ausführen würden. Embryonen und Föten befänden sich in einer Lebenseinheit mit der Schwangeren selbst und erst im Prozess zum eigenständigen Leben, das auch in der Bibel erst mit dem Atmen beginnt. In unserer Broschüre „Gott, ist §218 noch zeitgemäß?“ tragen wir ihre und andere verschiedene theologische, aber auch medizinische, juristische und gesellschaftliche Argumente für die Abschaffung von §218 zusammen.

Lea Chilian ist nicht die einzige Theologin, die §218 ethisch auf den Prüfstand stellt – und Hannah Bethke ist nicht die einzige Person, die an §218 festhalten möchte. Selbst medizinische, juristische und theologische Argumente wird Letztere vielleicht nicht überzeugen, sich §218 wegzuwünschen: Vielleicht aber gesellschaftliche Tatsachen.

Warum die Abschaffung von §218 gefordert wird

Die Beratungsorganisation pro familia, die bundesweit Konfliktberatungen anbietet, schlägt seit Monaten Alarm: Knapp die Hälfte der Praxen, die vor zwanzig Jahren noch Abbrüche anboten, hätten in den letzten zwanzig Jahren aufgegeben. Entweder aus Angst vor Pro-Life-Demonstrationen vor der Tür, wegen Drohbriefen und -anrufen, oder aus Fachkräftemangel: Schwangerschaftsabbrüche sind noch kein Pflichtmodul in der medizinischen Ausbildung. Die Reform der Approbationsordnung, die Grundwissen von Schwangerschaftsabbrüchen in jedem Medizinstudium verankern soll, stockt aktuell aufgrund von Finanzierungsfragen. Die Entkriminalisierung von Schwangerschaftsabbrüchen, so hofft pro familia, würde vor allem die Stigmatisierung des Themas beenden und somit ermöglichen, dass sich mehr Studierende in diesem Bereich ausbilden und später Praxen übernehmen würden, die Abbrüche anbieten.

Gehsteigbelästigung wirklich beenden

Es wäre zu hoffen, dass weniger Stigmatisierung auch weniger Bedrohung von abtreibenden Schwangeren vor Kliniken bedeuten würde. Zwar ist die sogenannte „Gehsteigbelästigung“ seit dem 24. Januar 2024 in Deutschland verboten, aber pro familia glaubt nicht, dass das Verbot ausreicht, um Frauen wirklich zu schützen. Wer schon einmal auf dem für die meisten eh schweren Weg zum Abbruchstermin eine kleine Plastik-Fötus-Figur in die Hand gedrückt bekommen hat oder „Mörderin“ ins Ohr gezischt bekam, weiß, dass es keiner großen Pro-Life-Demonstrationen bedarf, um nachhaltig traumatisiert zu werden. Die Angst vor Verfolgung ist groß, und auch einzelne „harmlose“ Schilder mit „Wir beten für dich“ oder „Danke Mama, dass ich leben darf“ werden weiterhin erlaubt sein. 5.000 Euro Strafe für die Ordnungswidrigkeit, eine schwangere Frau belästigt zu haben, sind außerdem nicht viel für finanziell schwer unterstützte antifeministische Gruppierungen, die teilweise Millionen für den Kampf gegen den Feminismus erhalten.
Wenn diese „Pro-Life“-Aktivisten sich tatsächlich wünschen, dass in Deutschland nicht mehr abgetrieben wird, ist ihr aktuelles Vorgehen nicht zielführend. Abgetrieben wurde schon immer, auch dort, wo es verboten ist oder war. Studien zeigen, dass in Ländern, in denen Schwangerschaftsabbrüche legal sind, eher weniger abgetrieben wird als dort, wo es strenge Auflagen gibt.

Weniger Schwangerschaftsabbrüche durch Entkriminalisierung

In Kanada oder den Niederlanden kann man sehen, was eine Legalisierung von Schwangerschaftsabbrüchen bringen kann. Während in den USA Frauen massenhaft ihre Menstruations-Tracking-Apps löschten, als der Oberste Gerichtshof der USA die generelle Legalität von Schwangerschaftsabbrüchen aufhob, gibt es in Kanada neben der Legalität von Schwangerschaftsabbrüchen breite Aufklärungsarbeit, damit weniger Frauen ungewollt schwanger werden. Im letzten Jahr wurden dort alleine 4 Millionen Dollar in die Verbesserung von Zugangsmöglichkeiten zu Abbruchkliniken gesteckt. Nach der Legalisierung gab es in Kanada genau so viel Schwangerschaftsabbrüche wie vorher, also keine Steigerung, wie oft befürchtet wird.
Auch in den Niederlanden, in denen ein Schwangerschaftsabbruch bis zur 22. Woche vorgenommen werden kann, sieht man die Vorteile einer Legalisierung: Aufgrund von Aufklärungsarbeit und frei verfügbaren Verhütungsmitteln ist es das europäische Land mit den wenigsten Abtreibungen. Eine Kombination aus Legalisierung und Geldern, die in Aufklärung und Verhütung gesteckt werden, sollten also für alle die optimalste Lösung sein – vorausgesetzt, man findet nicht per se, dass deutsche Frauen viele Kinder für das Land gebären und die ersten drei Jahre zu Hause bleiben sollten. Diese von der AfD favorisierte Lösung und seine Implikationen für Mütterarmut, weibliche Karrierechancen und Mitbestimmung im Land sollte sich jede Frau genauer anschauen, die aktuell aus anderen politischen Gründen meint, eine „AfD-Protestwahl“ wäre eine gute Idee.